Wie sozial ist Bayern noch?

Wie sozial ist Bayern (noch)?Bewertungen, Positionen und Forderungen zum Koalitionsvertrag von CSU und FREIEN WÄHLERN für die Legislaturperiode 2023

„Eine Gesellschaft ist nur so stark, wie sie sich ihrer Schwächeren annimmt“, so steht es in der Präambel des bayerischen Koalitionsvertrags für die Legislaturperiode 2023 – 2028, den wir aus Sicht der Diakonie unter die Lupe genommen haben. Wir haben viel Erfreuliches im Koalitionsvertrag entdeckt, doch vieles bleibt auch vage und unbestimmt. So nehmen Vorhaben zur Verbesserung der Pflege einen breiten Raum ein und der Fachkräftemangel wird zu Recht beklagt. Allerdings brauchen wir viel mehr konkrete Maßnahmen, um den Personalbedarf zu decken. Es fehlt dabei an überzeugenden Konzepten und innovativen Lösungen. Wir freuen uns, dass die bayerische Staatsregierung gegen Armut vorgehen möchte und Tafeln und Bahnhofsmissionen unterstützen will. Solche finanziellen Hilfen sind in vielen weiteren Bereichen sozialer Arbeit dringend erforderlich, um unsere Leistungen auch in Zukunft aufrecht erhalten zu können.

Bei den Hilfen für Arbeitslose müssen wir leider feststellen, dass die Schwächeren kaum im Blick sind. Auch zum Thema Migration haben wir kritische Anmerkungen. Ein so wesentlicher Arbeitsbereich wie die Beratung bleibt im Koalitionsvertrag ganz unerwähnt. Unsere Bilanz ist also gemischt. Wir hoffen, dass im Laufe der Legislaturperiode die positiven Vorhaben auch wirklich umgesetzt werden und die Politik der Bayerischen Staatsregierung sich zum Wohl der Schwächeren in unserer Gesellschaft gestaltet.

Dr. Sabine Weingärtner, Präsidentin der Diakonie Bayern

Die Bewertung im Einzelnen

„Freiheit und Stabilität. Für ein modernes,weltoffenes und heimatverbundenes Bayern“, so lautet der Titel des Koalitionsvertrags von CSU und Freien Wählern für die Legislaturperiode 2023 bis 2028"

Aus Sicht einer staatlich unabhängigen Sozialberatung von Kirche und Diakonie sind die aufgeführten Ziele im Koalitionsvertrag begrüßenswert, aber viele Gesetzgebungskompetenzen liegen im sozialen Bereich beim Bund. Daher sollte das Augenmerk der Bayerischen Staatsregierung insbesondere auf der Umsetzung von Hilfen in der eigenen Administration und Verwaltung im Fokus stehen.

Wir fordern in der konkreten politischen Umsetzung zu den Aussagen in der Präambel und im Koalitionsvertrag erfahrbare Antworten.

 

Erreichbarkeit der Behörden

„Wir setzen auf einen schlanken und schnellen Staat, in dem die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt steht“ (Präambel, S. 2).

„Wir wollen die Menschen beschützen vor Abstieg, Arbeitslosigkeit und Altersarmut“ (Präambel, S. 2).


Die Behörden in Bayern müssen für ratsuchende Bürgerinnen und Bürger erreichbar sein und zeitnah Anliegen bearbeiten können. Dies gilt insbesondere für das ‚Zentrum Bayern Familie und Soziales‘ mit seinen Regionalstellen. Antragsbearbeitungen dauern derzeit teilweise zwischen zwei und zwölf Monaten. Andere Leistungsbehörden machen ihre Bescheide wiederum davon anhängig, und es werden weitere Folgeanträge ausgelöst. Bürgerinnen und Bürger erleben dies oft als „ungerechte Bürokratie“ des Sozialstaates.


Digitalisierung der Verwaltung

„Die Verwaltung soll noch digitaler werden. Wir wollen, dass der Staat und seine Behörden überall gleich gut erreichbar sind und das Gleiche leisten“ (Präambel, S. 2)

Die Behörden in Bayern müssen digitaler werden, aber sie müssen die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Dazu zählen sowohl das Angebot von Beratung als auch die Förderung zum Umgang mit Digitalität und zuletzt auch die Ausstattung mit Geräten für eine soziale Teilhabe. Einige Behörden nutzen die Digitalisierung zur „Abschottung“ wegen hoher Arbeitsbelastung oder mangelnder Unterstüzung bzw. Ausstattung innerhalb der Behörde. Auch kommt die Ausstattung der Mitarbeiter:innen mancherorts an ihre Grenzen. Dies führt zu Unmut auf beiden Seiten.


Präventive Maßnahmen weiterentwickeln und bestehende Maßnahmen fortführen

„Wir setzen auf einen sozialen und versöhnenden Staat, in dem wir Gegensätze überwinden  anstatt sie zu betonen“ (Präambel, S. 2).

Präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Ausgrenzung in Schule und Ausbildung, zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gegen Vereinsamung im Alter müssen
weiterentwickelt werden. Bestehende und ergänzende Maßnahmen müssen fortgeführt werden, auch wenn sich der Bund teilweise aus der Finanzierung zurückzieht, beispielsweise bei den Freiwilligendiensten, die Zugänge zu sozialen Berufen eröffnen.

Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen

„Wir lassen nicht zu, dass Stadt und Land gegeneinander ausgespielt werden. Die Bayernkoalition ist die Klammer zwischen vitalen Zentren und lebenswertem ländlichen Raum. Wir schaffen gleichwertige Lebensbedingungen und Arbeitsverhältnisse – immer mit besonderem Blick auf Normalverdiener und die sogenannten kleinen Leute“ (Präambel, S. 2-3)

Hierzu müssen die strukturellen Rahmenbedingungen grundlegend verbessert bzw. ausgebaut werden im Bereich Wohnen (bezahlbarer Wohnraum), Mobilität (soziale Teilhabe) und Infrastruktur im ländlichen Raum. Für einen Umbau hin zu einer klimafreundlichen Gesellschaft muss die soziale Teilhabe durch eine bezahlbare Mobilität für alle Bevölkerungsgruppen angestrebt werden. Nicht nur Schülerinnen und Schüler sowie Auszubildende, sondern auch Seniorinnen und Senioren sollten Zugang zum verbilligten Deutschlandticket haben. Auch müssen Wege für Menschen ohne digitale Möglichkeiten entwickelt werden, um Barrieren abzubauen.

Familienfragen

„Bayern ist Familienland“, heißt es im Koalitionsvertrag (S. 4).

Familienfragen sind immer Schnittstellenfragen, die Themen der Ressorts verschiedener Ministerien betreffen. Leider steht in dem neuen Koalitionsvertrag nicht darüber, wie die betreffenden Ministerien zum Wohl der Familien in Bayern zu den wichtigen Themen der Familienpolitik in der bevorstehenden Legislaturperiode zusammenarbeiten wollen.

Wie sollen wichtige Familienthemen wie beispielsweise familienfreundlicher, bezahlbarer Wohnraum und bezahlbare Energie- Grundversorgung für alle Familien, gute Perspektiven für Sorgearbeit in den Familien (fast 80 Prozent der Pflege findet in den Familien statt) sowie eine effektive Armutsvorsorge und statusunabhängige Bildungszugänge für alle Kinder in Bayern in der aktuellen Legislaturperiode effektiv, zielgerichtet und vor allem ressortübergreifend bearbeitet werden? Welches umfassende Gesamtkonzept verfolgt die bayerische Staatsregierung, um dem Fachkräftemangel auf allen Ebenen entgegen zu wirken, um so die bereits wirksame Negativspirale zu stoppen?

Antworten auf diese drängenden Fragen bleibt der Koalitionsvertrag leider schuldig.

Bayern kann erst dann ein zuverlässiges Familienland für alle Familien sein, wenn Familienfragen ressortübergreifend in den Ministerien gedacht und bearbeitet werden.

Positiv ist hervorzuheben, dass die Bündelung des früheren bayerischen Betreuungsgeldes und Landeserziehungsgeldes zum bayerischen Familiengeld einen sichtbaren positiven Effekt erzielen konnte. Allerdings kann es bis zum dritten Geburtstag eines Kindes einkommensunabhängig bezogen werden, was einem Gießkannenprinzip gleichkommt. Um armutsgefährdete oder alleinerziehende Familien hier stärker zu entlasten, wäre eine sozial gerechte Verteilung des bayerischen Familiengeldes wünschenswert.

Beratung

Der Koalitionsvertrag erwähnt die psychosoziale Beratung der Schwangerschafts-, Ehe, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung sowie die Telefonseelsorge überhaupt nicht, obwohl das Thema für unsere Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Die psychosoziale Beratung spielt eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Menschen in sozialen Not- und Ausnahmesituationen, insbesondere angesichts der steigenden Inflation, der Wohnungsnot, des Krieges und der Klimakrisen.

Es besteht ein gesetzlicher Auftrag im Sozialgesetzbuch (SGB VIII), die psychosoziale Beratung als Pflichtberatung sicherzustellen. Diese Art der Beratung ist entscheidend, um Menschen in Krisensituationen zu helfen, ihre psychische Gesundheit zu stabilisieren, Beziehungsprobleme zu lösen und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Die Tatsache, dass im Koalitionsvertrag keine klare Verpflichtung zur finanziellen Absicherung und Förderung der Beratungsstellen oder zur zukünftigen Sicherung der Gelder für psychosoziale Beratung festgeschrieben ist, beobachtet die Diakonie Bayern mit Sorge.

Ohne ausreichende Mittel könnten Beratungsstellen Schwierigkeiten haben, ihre Dienstleistungen aufrechtzuerhalten und Menschen in Not angemessen zu unterstützen.

Es ist wichtig, dass die Bayerische Staatsregierung die Bedeutung der psychosozialen Beratung und die zunehmende Notwendigkeit dieser Dienstleistungen angesichts der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen erkennt. Eine angemessene Finanzierung und Sicherung der Gelder sind entscheidend, damit Menschen in Krisensituationen adäquat unterstützt werden können. Dies könnte auch dazu beitragen, soziale Probleme zu reduzieren und die langfristigen Auswirkungen von Krisen und Belastungen zu mildern.

Insgesamt sollte die Politik die psychosoziale Beratung als eine wichtige Säule im Sozialsystem anerkennen und sich dafür einsetzen, ihre Finanzierung und Förderung sicherzustellen.

Kinder- und Jugendhilfe

Der Koalitionsvertrag liefert grundsätzliche Aussagen zur Stärkung und Unterstützung für Familien (Präambel S. 2), zur Ganztagsbetreuung (siehe unten) und zum Ausbau von Jugendsozialarbeit an Schulen (S. 14).

„Kinder haben in Bayern oberste Priorität und sind unser größter Schatz. … Besonders haben wir diejenigen Jugendlichen und Senioren im Blick, die unter erschwerten Bedingungen leben oder den gesellschaftlichen Anforderungen alleine noch nicht oder nicht mehr gewachsen sind. Wir wollen faire Chancen und Mitwirkung für alle“ (S. 4).

Wir begrüßen diese Zusagen, und gleichzeitig vermissen wir konkretere Aussagen zu Unterstützungsangeboten der Kinder- und Jugendhilfe.

Wir vermissen ein Versprechen für Familien und deren Kinder, die durch Armut, Krankheit, psychische Belastungen intensive therapeutische und erzieherische Hilfen benötigen. Wir erwarten, dass die Jugendämter durch den Freistaat unterstützt werden, um die Leistungen der Förderung der Erziehung in der Familie, der Hilfen zur Erziehung, der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und der Maßnahmen zum vorläufigen Schutz von Kindern und Jugendlichen gewährleisten zu können. Monatelange Wartezeiten für Kinder, die stationäre therapeutische Hilfe benötigen, sind ebenso besorgniserregend wie fehlende Schutz- und Inobhutnahmeplätze. Auf diese Hilfe hat jedes Kind ein Recht, unabhängig von Herkunft, Glaube, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Behinderung.

Weiterhin vermissen wir ein Bekenntnis zu den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und deren finanzieller Absicherung, insbesondere beim Umbau zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe.

Wir begrüßen Maßnahmen zur Ausbildung und Qualifizierung von Mitarbeiter:innen im Sozialbereich (S. 5). Diese Unterstützung ist für den Erhalt einer funktionierenden und bedarfsorientieren Kinder- und Jugendhilfe besonders notwendig. Zusätzlich brauchen wir die Finanzierung von Fort- und Weiterbildungsprogrammen für Quereinsteiger:innen in der Kinder- und Jugendhilfe.

Ganztagsbetreuung

Zum Thema Ganztagsbetreuung enthält der Koalitionsvertrag keine neuen Informationen. Er bestätigt das Ziel, bis 2028 weitere 130.000 Betreuungsplätze für Grundschulkinder zu schaffen und die Kommunen beim quantitativen Ausbau zu unterstützen (S. 4-5, S. 12). Entscheidende Fragen zur Finanzierung und Qualität der Betreuungsangebote bleiben unbeantwortet.

Der Vertrag verspricht den Familien „beste Bildung und Betreuung für Kinder“ (Präambel, S. 2). Diese Zusage erfordert entsprechende Ressourcen. Hier liegt das Problem: Die Träger der Freien Wohlfahrt belegen seit Jahren, dass die Finanzierungsstrukturen defizitär sind und ein weiterer Betrieb kaum noch realisierbar ist. Ein quantitativer Ausbau der Betreuung ist aktuell nahezu unmöglich.

Sowohl Familien als auch die Träger haben berechtigte Ansprüche an eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung. Entsprechende Forderungen sind sowohl dem Kultusministerium für die schulischen Ganztagsangebote als auch dem Sozialministerium für die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe bekannt. Zum Beispiel ist für die offene Ganztagsschule eine Erhöhung der Fördermittel um mehr als 30 Prozent notwendig.

Mittelfristig besteht die Gefahr, dass sich freie Träger aus den Angeboten zurückziehen. Die Konsequenz wäre die Reduzierung der Betreuungsmöglichkeiten für Familien in Bayern. Das Ganztagsversprechen des Freistaats wäre nicht zu halten.

Der Fachkräftemangel belastet die Ganztagsbetreuung zusätzlich. Investitionen in Ausbildung und attraktivere Arbeitsbedingungensind notwendig, um dieser Herausforderung zu begegnen (S. 5). Spürbare Entlastun brächte der angekündigte „Kulturwandel in staatlichen Behörden: Weniger Bürokratie, mehr Digitalisierung“ (S. 35) auch für die Verwaltung der Ganztagsangebote.

Angebote für Alleinerziehende


Die Diakonie Bayern begrüßt es, dass die Staatsregierung mit dem Bayerischen Familien- und Krippengeld sowie dem Beitragszuschuss für alle drei Kindergartenjahre bestrebt ist, Familien von der Krippe bis zur Einschulung auch weiterhin zu unterstützen. Alleinerziehende Familien sind allerdings eine besonders vulnerable Familienform. Tagtäglich müssen überwiegend alleinerziehende Mütter in Ein-Eltern-Familien enorme Herausforderungen meistern. Sie müssen nicht nur die für unsere Gesellschaft so wichtigen Erziehungsaufgaben leisten, sondern auch alleine für die finanzielle Sicherheit der Familie sorgen. Hierfür brauchen sie neben passgenauen, verlässlichen Rahmenbedingungen finanzielle Unterstützung in allen Lebenslagen.

Der geplante Ausbau von Angeboten der Kindertagesbetreuung sollte, mit Blick auf die Bedürfnisse von Alleinerziehenden, besonders um flächendeckende Angebote im Bereich der flexiblen Kinderbetreuungszeiten mit der sogenannten Randzeitenbetreuung realisiert werden.

Die Diakonie Bayern stimmt der Staatsregierung zu, dass ein guter und sicherer Arbeitsplatz die beste Sozialversicherung bietet und somit entscheidend für eine wirkungsvolle Armutsprävention und auskömmliche Rente ist. Häufig ist es allerdings für alleinerziehende Mütter und Väter kaum möglich, eine reguläre Ausbildung zu absolvieren oder eine geeignete Arbeitsstelle zu übernehmen, da die notwendigen Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit ihrer besonderen Familienform mit dem Beruf nicht gegeben sind. Die Bayerische Staatsregierung sollte die Möglichkeiten im Bereich der Teilzeitberufsausbildung dringend bekannter machen und zudem finanzielle Unterstützung beim Aufbau von Modellprojekten und einer flächendeckenden Beratungsstruktur für die Realisierung von Teilzeitausbildung zur Verfügung stellen.

Besonders gravierend ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum für Ein-Eltern- Familien, vor allem in der bayerischen Landeshauptstadt und in Ballungsräumen. Die Diakonie Bayern begrüßt mit Blick auf die Bedürfnisse von Ein-Eltern-Familien die Vorhaben der Bayerischen Staatsregierung, die soziale Wohnraumförderung mit einer Wohnbaumilliarde zu verstetigen.

Begrüßenswert ist auch die Idee, dass vom Land geförderter und mit Belegungs- und Mietpreisbindungen versehener neuer Wohnraum mit bereits bestehenden Wohnungen getauscht werden könne. Da Innovationen am Bau zukünftig ebenso von der Staatsregierung unterstützt werden sollen, möchten wir hervorheben, wie sinnvoll und wichtig die Entwicklung und Förderung von Wohnbaukonzepten ist, die ausschließlich für Ein-Eltern-Familien vorgehalten werden sollen. Beratungs- und Betreuungsangebote können hierbei unter einem Dach zur Verfügung stehen und zudem ein enger Austausch zur gegenseitigen Unterstützung ermöglicht werden.

Abschließend möchten wir betonen, dass die Bestrebung der Bayerischen Staatsregierung, das Ehegattensplitting durch erhöhte Freibeträge für Kinder weiterzuentwickeln dringend realisiert werden sollte. Da die Armutsgefährdung für Alleinerziehende seit Jahren ansteigt, sehen wir steuerliche Entlastungen für Ein-Eltern-Familien, neben der geplanten echten Preisbremse für Bürgerinnen und Bürger, als unabdingbar an.

 

Hilfe für Frauen mit Gewalterfahrung

Damit, wie es der Koalitionsvertrag auf S. 8 formuliert, „jede Person, die Gewalt gleich welcher Art erfahren hat, schnell und unkompliziert Hilfe und Unterstützung erhalten“ kann, muss das Konzept „Bayern gegen Gewalt“ mit den Forderungen der Istanbul-Konvention abgestimmt und angepasst werden. Die Plätze in den Frauenhäusern für von Gewalt bedrohte und betroffene Frauen und ihre Kinder müssen konsequent erhöht und die Beratungsstellen für sexualisierte und häusliche Gewalt flächendeckend ausgebaut werden. Ebenso muss mehr Geld in die Fachberatungsstellen für Täter:innenarbeit investiert werden, um diesen wichtigen Bereich im Sinne des Opferschutzes zu stärken und die Gewaltspiralen in den betroffenen Familien nachhaltig zu unterbrechen. Hierfür ist auch der Ausbau der Präventionsarbeit, z. B. an Schulen und in Kindergärten, ein maßgeblicher Faktor. Neben der Sensibilisierung von Fachkräften für das Problem von häuslicher Gewalt und Partnerschaftsgewalt müssen auch die entsprechenden Stellen der Justiz und bei der Polizei geschult werden. Neue Formen der Gewalt wie digitalisierte Gewalt müssen noch viel mehr in den Fokus genommen werden. Die Sensibilisierung und Fortbildung von Fachkräften in allen beteiligten Berufsgruppen sind hier dringend erforderlich. In der Regel sind die von Gewalt betroffen Familienmitglieder traumatisiert und benötigen neben einem adäquaten Schutzraum mit geschultem Personal vor allem therapeutische Unterstützung. Wie der unzureichenden psychotherapeutischen Versorgung in Bayern entgegengewirkt werden soll, lässt der Koalitionsvertrag offen.

Wohnungsnotfallhilfe

Die Diakonie Bayern begrüßt, dass sich die Bayerische Staatsregierung im Koalitionsvertrag verpflichtet hat, „gegen alle Formen der Armut“ vorzugehen (S. 7). 

Der in der letzten Legislaturperiode auf dem Weg gebrachte Aktionsplan ´Hilfe bei Obdachlosigkeit´ soll weiter ausgebaut werden und die Stiftung Obdachlosenhilfe weiterhin innovative Projekte zur nachhaltigen Unterstützung fördern. Dadurch können in Bayern präventive und zielgruppenspezifische Hilfeangebote erweitert und wirksame staatliche Maßnahmen fortgeführt werden.

Die Diakonie Bayern fordert, den Wohnraumerhalt zu stärken und die Wohnungslosigkeit bis zum Jahr 2030 zu überwinden:

Fachstellen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit bedarfs- und flächendeckend auf- und ausbauen;

Unterstützung durch das Land bei der Überleitung von staatlich geförderten, wirksamen Modellprojekten in eine kommunale Regelfinanzierung;

wohnbegleitende Hilfen wie z. B. ´Housing First´ als Ansatz zur Versorgung wohnungsloser Menschen als einen Baustein im Gesamthilfesystem mit einem zusätzlichen staatlichen Förderprogramm zu realisieren;

die Umsetzung des geplanten Nationalen Aktionsplans gegen Wohnungslosigkeit auf Landesebene nachhaltig zu verfolgen und dabei auch Expert:innen in eigener Sache zu beteiligen.

Die Politik muss sich an einer wirksamen sozialen Wohnungspolitik mit mehr öffentlich gefördertem Wohnraum und einer Neuausrichtung der Bestandspolitik messen lassen. Denn nur so kann der Zugang zu Wohnraum auch für wohnungslose Menschen verbessert und Wohnungslosigkeit überwunden werden.

Im Koalitionsvertrag nennt die Bayerische Staatsregierung neue Impulse beim Bauen. Beim Wohnungsbau und zur Wohnungsbauförderung kommt es auf die Umsetzung des angekündigten bayerischen Baukonjunkturprogramms an.

Grundlage bildet die Bayerische Verfassung  Art. 106: „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Die Förderung des Baues billiger Volkswohnungen ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden.“

Die Diakonie fordert:

Förderprogramme für Wohnungen für bestimmte Bedarfsgruppen aufzulegen, um Teilhabe zu ermöglichen;

eine sozial gerechte Bodenpolitik und Konzeptvergabe beim Mietwohnungsbau.


Bahnhofsmission


Es ist erfreulich, dass ein so kleines Arbeitsfeld wie die Bahnhofsmission explizit im Koalitionsvertrag auf S. 7 erwähnt wird: „Wir gehen entschlossen gegen alle Formen der Armut vor. Daher werden wir die Tafeln, Tische und Bahnhofsmissionen in Bayern noch stärker finanziell unterstützen.“ 13 Standorte von Bahnhofsmissionen in Bayern, die sich bis dato überwiegend aus kirchlichen Zuwendungen, trägerinternen Aufwänden und im Einzelfall mit Leistungsvereinbarungen von Kommunen finanzierten und auf die Arbeit von überwiegend ehrenamtlichen Engagierten angewiesen sind, können nun mit einer zusätzlichen Förderung rechnen. Welche konkrete Form dafür zu finden ist, wird künftig Aufgabe der Verantwortlichen in beiden Kirchen sowie der Diakonie und Invia werden. Gespannt darf man sein, welche konkrete Vorstellung die bayerische Staatsregierung – als nunmehr gemeinsamen Auftrag – anstreben wird. Zu hoffen bleibt, dass dies idealerweise in Form eines ‚Runden Tisches‘ zwischen Regierung bzw. Ministerien, Trägervertreter:innen und Praktiker:innen vor Ort passgenau für die lokalen und regionalen Bedarfe und Ansprüche ermittelt und vereinbart werden wird.

Hilfen für Arbeitslose

Zu diesem Arbeitsgebiet findet sich im gesamten Koalitionsvertrag explizit keine direkte Aussage. Es gibt allerdings mehrere indirekte Hinweise. So heißt es in der Präambel: „Bayern liegt in fast allen Bereichen vorne in Deutschland: bei der Sicherheit, bei den Finanzen, auf dem Arbeitsmarkt ...“ (S. 1). – „Jeder soll in Bayern sein Glück finden können.“ (S. 1) – „Wir wollen die Menschen beschützen vor Abstieg, Arbeitslosigkeit und Altersarmut“ (S. 2). – „Wir schaffen gleichwertige Lebensbedingungen und Arbeitsverhältnisse – immer mit besonderem Blick auf Normalverdiener und die sogenannten kleinen Leute“ (S. 3).

Ablehnung des Bürgergeldes
Das sich im Koalitionsvertrag durchgehend zeichnende Mantra lautet: „Ein guter und sicherer Arbeitsplatz ist die beste Sozialversicherung ... Ein stabiler Arbeitsmarkt ist das Fundament unseres Wohlstandes“ (S. 6). Auf S. 8 heißt es: „Arbeit muss sich lohnen. Daher lehnen wir das leistungsfeindliche Bürgergeld ab und werden uns auf Bundesebene für den Erhalt von Anreizen zur Arbeitsaufnahme einsetzen.“ Die Vermutung liegt nahe, dass damit auch die Sanktionsmöglichkeiten gemeint sind.

Bessere Mittelausstattung der Jobcenter
Positiv bewertet die Diakonie Bayern den sich anschließenden Satz auf S. 8: „Um Arbeitssuchenden weiterhin wirksam in Arbeit zu vermitteln, setzen wir uns beim Bund für eine bessere Mittelausstattung der Jobcenter ein.“ Bei der Formulierung „vermitteln“ liegt die Vermutung nahe, dass die internen Personalkosten/-aufwände innerhalb der Behörde gemeint sind. Der Begriff „Qualifizierung“ wäre in diesem Zusammenhang für den arbeitslosen Menschen deutlich zielführender gewesen.

Fehlende Teilhabe von Langzeitarbeitslosen an der Digitalisierung
Der Koalitionsvertrag verspricht: „Bis Mitte 2024 sollen mindestens 10 % aller Verwaltungsvorschriften entfallen“ (S. 31). Auf S. 34 wird vereinbart: „Im staatlichen Bereich wollen wir die durchgehend digitale Bearbeitung von Verwaltungsleistungen ... Gleichzeitig wollen wir die digitale, barrierefreie Teilhabe ohne Altersdiskriminierung“. An dieser Stelle fehlt leider ein Hinweis auf die fehlende Teilhabe von Langzeitarbeitslosen mangels digitaler und finanzieller Kompetenz gegenüber Jobcentern und Arbeitsagenturen. Statt dessen soll die Digitalisierung aller Ämter forciert werden ohne Rücksicht auf die Menschen, die damit von der Teilhabe ausgeschlossen werden.

Qualifizierungen für Langzeitarbeitslose bleiben unerwähnt
Im dritten Kapitel des Koalitionsvertrags „Für eine starke bayerische Wirtschaft“ wird betont: „Wir haben die niedrigste Arbeitslosenquote in Deutschland, die geringste Jugendarbeitslosigkeit und die meisten Industriearbeitsplätze“ (S. 37). Der Vertrag gibt die Sichtweise der Arbeitgeber wieder: „Bekenntnis zum Unternehmertum, Familienbetrieben und zur Selbstständigkeit, … starker Mittelstand … Handwerk ist Lebensqualität“ usw. (S. 37). Die zur finanziellen Stärkung der allgemeinen Sozialversicherungen (Rente/Krankenkassen, Arbeitslosenversicherung) angedachten Pläne (Bürgerversicherung, Rentenversicherung auch für Beamte) werden vehement abgelehnt (S. 49). Vielmehr werden die „gesunden Staatsfinanzen“, ein Bekenntnis zur Haushaltsdisziplin sowie „keine neuen Schulden (S. 52) betont.
Selbst bei den gegenüber der Bundesebene erhobenen Forderungen findet sich kein Wort über Langzeitarbeitslosigkeit, Qualifikationsanforderungen oder gar zu Überlegungen zu einem sozialen ‚dritten Arbeitsmarkt‘.

Gemeinnützige Arbeit für Geflüchtete
Der Koalitionsvertrag vereinbart allerdings: „Damit mehr Geflüchtete gemeinnützige Arbeit leisten können, werden wir entsprechende Arbeitsmöglichkeiten ausbauen“ (S. 61). Die Frage wird sein, wo diese Tätigkeiten stattfinden können und was hierbei in welcher Höhe gefördert werden wird. Hier gilt es anzusetzen, damit sich kein Konflikt zwischen Langzeitarbeitslosen und Geflüchteten entwickelt.

Insgesamt enthält der Koalitionsvertrag zum Thema ‚HIlfen für Arbeitslose‘ zu wenig Konkretes. Die getroffenen Aussagen sind aus Sicht der Diakonie Bayern überwiegend kritisch zu bewerten.

Zukunftsfähige Pflege

Um eine zukunftsfähige Pflege zu gewährleisten, die auch den steigenden Bedarf an Pflegeleistungen decken kann, sollen bis 2028 in Bayern 8.000 zusätzliche Pflegeplätze geschaffen werden (vgl. S. 19). Der Koalitionsvertrag lässt jedoch offen, um welche Art von Pflegeplätzen es sich handelt und woher die dafür benötigten Pflegekräfte kommen sollen. Als weitere zukünftige Herausforderung nennt der Koalitionsvertrag die Auswirkungen des Klimawandels, die vor allem in seiner Ausprägung als zunehmende Hitzetage ältere Menschen gesundheitlich herausfordern. Im Koalitionsvertrag finden sich Hinweise auf Forschung, Beratung und Maßnahmenpläne. Die notwendige Finanzierung für klimafreundliche Umbauprojekte in Pflegeeinrichtungen und Wohnungen bleibt jedoch ohne Nennung.

Verbesserung der Strukturen

Der Abbau von Bürokratie und Erprobungsmöglichkeiten für flexible Lösungen können die Strukturen der Pflege verbessern. Auch der Erprobung weiterer innovativer Ansätze in der Pflege stehen wir sehr positiv gegenüber und unterstützen dies als Verband der Wohlfahrtspflege gerne als Projektpartnerin. Allerdings gilt: Die Einführung neuartiger Konzepte darf nicht zu Kosten der Pflegebedürftigen gehen. So werden z. B. die im Koalitionsvertrag genannten Springerkonzepte, die auf einem Projekt der Diakonie basieren, nach Ablauf der Modellphase finanziell auf die Pflegebedürftigen umgelegt. Die Pflegeversicherung kann in ihrer aktuellen Funktionsweise Pflegebedürftige nicht mehr, wie ursprünglich angedacht, ausreichend finanziell entlasten. Pflege wird für viele Menschen zukünftig nicht mehr bezahlbar sein und somit zum Armutsrisiko. Für eine realistische Verbesserung der Strukturen braucht es eine zukunftsfähige Finanzierung. Hier bleibt der Koalitionsvertrag eine klare und zukunftsfähige Antwort schuldig.

Attraktivere Arbeitsbedingungen

In Bayern besteht bereits jetzt ein Mangel an Pflegekräften. Der Freistaat hat in den letzten Jahren Schritte unternommen, um die Rahmenbedingungen für professionell Pflegende zu verbessern und mehr Kräfte zu gewinnen. Im Koalitionsvertrag wird z. B. die ‚Fast Lane‘ zur beschleunigten Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse für Pflegefachkräfte erwähnt. Es wäre jedoch dringend erforderlich, diese Möglichkeit auch auf Pflegehilfskräfte auszuweiten, um auch in diesem Bereich ausreichend Kräfte zu gewinnen. Die Stärkung der häuslichen Pflege durch den Einsatz von Gemeindeschwestern ist nicht ausreichend, um für spürbare Entlastung zu sorgen. Bezahlbarer Wohnraum für Pflegekräfte kann vor allem in Ballungsräumen ein wichtiger Anreiz sein, doch kommt es jetzt darauf an, wie schnell dieses im Koalitionsvertrag genannte Versprechen umgesetzt und vor allem, wie es finanziert wird.

Potenzial in der Pflegeausbildung

Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Auszubildenden in der Pflege in Bayern zurückgegangen. Daher ist es wichtiger denn je, Maßnahmen zur Gewinnung von Auszubildenden zu ergreifen, um den zukünftigen Bedarf an Pflegekräften decken zu können. Auch sollte eine bundesweite Harmonisierung der Ausbildung von Pflegehilfskräften angestrebt werden, um gleiche Bedingungen und ein durchlässiges Aus- und Weiterbildungssystem zu schaffen. Der Bereich der Pflegeausbildung wird im Koalitionsvertrag allerdings nicht erwähnt. Es bleibt nur zu hoffen, dass die neue Regierung diesen Bereich dennoch aktiv angeht.

Unterstützung pflegender Angehöriger

Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, häufig von Angehörigen. Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass die Pflegezeiten von nicht erwerbsmäßig Pflegenden, wie z. B. pflegenden Angehörigen, besser anerkannt werden sollen (vgl. S. 8). Konkrete Ausgestaltungen fehlen jedoch. Die Anerkennung von Pflegezeiten in der Rentenversicherung kann darüber hinaus nur ein erster Schritt sein. Weitergehende Maßnahmen wie die Einführung eines Pflegegeldes analog zum Erziehungsgeld wären wünschenswert.

Sozialraum stärken

Der im Koalitionsvertrag genannte Masterplan für Prävention und Gesundheitsförderung sollte mit einem Konzept für ein generationenübergreifendes soziales Miteinander in den Sozialräumen verknüpft werden. Barrierefreier Wohnraum, soziale Teilhabemöglichkeiten und eine gute Versorgungsstruktur vor Ort sind entscheidend, um ältere Menschen lange zu Hause unterstützen zu können. Um die strategischen Ziele der Initiative „Gute Pflege. Daheim in Bayern“ zu erreichen, müssen die Förderprogramme des Gesundheits- und des Sozialministeriums aufeinander abgestimmt und kombinierbar sein. Alle Akteur:innen – auch die Verbände – sollten miteinbezogen werden, um gemeinsam am Ziel eines starken Sozialraums zu arbeiten.

Krankenhäuser

Erhöhung der Investitionsmittel
Die Diakonie Bayern begrüßt die Erhöhung der Investitionsmittel für Krankenhäuser auf eine Milliarde Euro (S. 16). Hier kommt der Freistaat seiner Verpflichtung nach, für eine moderne und angemessene Infrastruktur zu sorgen. Natürlich sind die Wünsche und Bedarfe in der Fläche meist noch größer, so dass auch mit der Aufstockung vermutlich nicht alle Projekte realisiert werden können.

Förderprogramm zur Bewältigung des Strukturwandels
Zu begrüßen ist auch ein Förderprogramm zur Bewältigung des Strukturwandels infolge der Krankenhausreform. Hierfür stellt der Freistaat 100 Millionen Euro zur Verfügung. Dabei darf nicht nur die ländliche Versorgung im Vordergrund stehen, sondern es müssen auch kleinere Häuser in den Ballungsräumen fit für die Zukunft gemacht werden. Auch hierfür werden die 100 Millionen Euro voraussichtlich nicht ausreichen.

Soforthilfen für Kliniken
Viele Kliniken leiden unter akuten und existenzbedrohenden finanziellen Engpässen. Es drohen Insolvenzen, und im schlimmsten Fall ist die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet. Hier benötigen die Kliniken dringend Soforthilfen, die auch im vorliegenden Koalitionsvertrag nicht explizit erwähnt werden. Erst wenn die akute Bedrohung der Kliniken bewältigt ist, kann der Blick wieder nach vorne gerichtet werden. Entscheidend ist dabei, dass die Mittel tatsächlich in eine zukunftsfähige und innovative Versorgungsstruktur fließen und nicht nur zur Erhaltung des Status quo verwendet werden.

Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung

Die Koalition spricht sich für „eine würdevolle Begleitung bis an das Lebensende“ (S. 20) aus. Weiter heißt es: „Daher bauen wir die Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung weiter aus.“ Dies entspricht den Forderungen der Diakonie und des Evang. Fachverbandes für End-of-Life-Care.

Palliative Betreuung

Im Koalitionsvertrag heißt es weiter: „… und wollen auch eine palliative Betreuung zu Hause und in stationären Pflegeeinrichtungen etablieren.“ Die Formulierung „etablieren“ wird der Wirklichkeit nicht ganz gerecht. Denn seit Jahren übernehmen die ambulanten Hospizdienste der Diakonie die Betreuung zuhause, und die stationären Pflegeeinrichtungen diakonischer Träger implementieren seit langer Zeit die Hospizidee (Spiritual Care, End-of-Life-Care). Wir brauchen vielmehr eine Sicherung und auskömmliche Finanzierung dieser Angebote. Darüber hinaus fordert die Diakonie einen stetigen Ausbau und eine Förderung zusätzlicher neuer, innovativerer Angebote wie beispielsweise Tageshospize.

Sterbehilfe

Mit dem abschließenden Satz „Jede Form der organisierten und geschäftsmäßigen Sterbehilfe lehnen wir ab, sie ist unvereinbar mit der Würde der Person“ greift der Koalitionsvertrag ein außerordentlich komplexes und schwieriges Thema auf, das in Kirche und Diakonie breit und auch kontrovers diskutiert wird.

Nach wie vor fehlt eine verbindliche gesetzliche Regelung.

Vom Diakonischen Werk Bayern ist dazu ein Positionspapier veröffentlicht worden, in dem wir uns für ein Suizidpräventionsgesetz aussprechen.
Drei Podcasts der bayerischen Diakonie zum Thema Assistierter Suizid spiegeln die kontroverse Debatte.

Eine Arbeitshilfe zum Assistierten Suizid in Einrichtungen der Diakonie unterstützt die Mitglieder in ihrem individuellen Meinungsbildungsprozess.

Hospiz und Ehrenamt

Mit Blick auf die Hospizarbeit allgemein fehlt im Koalitionsvertrag der Hinweis auf das Ehrenamt, das gerade in diesem Arbeitsfeld so zentral und wichtig ist, ist der Hospizgedanke und die Hospizarbeit doch aus dem Ehrenamt entstanden. Die ehrenamtliche Hospizarbeit sollte gestärkt und besser finanziert werden.

Ehrenamt und Bürgerschaftliches Engagement

Neue Maßnahmen fehlen
Mit Bezug auf das Ehrenamt vereinbaren CSU und Freie Wähler, bestehende Maßnahmen fortzuführen. Konkret sind dabei benannt die Ehrenamtskarte, die Ehrenamtsversicherung und der Ehrenamtspreis (S. 7). Maßnahmen zur Erweiterung der Angebote oder zur Anpassung an veränderte Engagementformen werden nicht aufgeführt.

Die Koalition will „eine familienfreundliche und flexiblere Arbeitswelt und Arbeitszeit und […] die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und bürgerschaftlichem Engagement weiter stärken“ (S. 8). Unklar ist, welche Maßnahmen die Koalition dafür vorsieht. Im folgenden Satz heißt es nur: „Das Elterngeld auf Bundesebene soll in bisheriger Form erhalten bleiben“ (S. 9).

Forderungen an den Bund
Veränderungen für den Bereich Ehrenamt werden im Koalitionsvertrag an den Bund gerichtet. Gefordert werden höhere Steuerfreibeträge für Vereine (S. 7). Im fünften Kapitel „Für den Sport“ steht: „Zudem setzen wir uns beim Bund für steuerliche Erleichterungen durch Anpassungen bei der Ehrenamts- und Übungsleiterpauschale ein“ (S. 24). Diese Aussage bezieht sich in diesem Kontext allein auf den Sport, sie sollte jedoch auch für die gesamte Bandbreite des freiwilligen Engagements gelten.

Stärkung des Ehrenamts – aber wie?
CSU und Freie Wähler vereinbaren im Koalitionsvertrag: „Wir stärken das bürgerschaftliche Engagement und Ehrenamt“ (S. 7). Von den Forderungen an den Bund abgesehen, fehlt es allerdings konkreten Strategien, wie das Ehrenamt in Bayern gestärkt werden und soziale Organisationen für eine wirksame und breit aufgestellte Ehrenamtsarbeit finanziell unterstützt werden können.

 

Arbeitsrecht

Fachkräftemangel
Aus Sicht des Fachbereichs Arbeitsrecht im Diakonischen Werk Bayern ist es erfreulich, dass der Koalitionsvertrag den Fachkräftemangel an einer Vielzahl von Stellen als Problem erkennt und benennt. Dabei bleibt es dann aber auch schon.

Nachhaltige Lösungsansätze, wie dem Fachkräftemangel begegnet werden kann, und wie neue Fachkräfte, insbesondere für Pflege und Kindertagesbetreuung, gewonnen werden sollen, lässt der Koalitionsvertrag vermissen.


Bekenntnis zu den Kirchen
Genauso vage bleibt das Bekenntnis zu den Kirchen (vgl. S. 14). Insbesondere fehlt ein klares Bekenntnis zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und den Arbeitsvertragsrichtlinien der Kirchen bzw. zum sogenannten ‚Dritten Weg‘.

Einstieg in ein Gehörlosengeld und Einrichtung einer Landesfachstelle für Barrierefreiheit

Die Diakonie Bayern begrüßt es sehr, dass im Koalitionsvertrag der Einstieg in ein Gehörlosengeld angestrebt wird. Das Gehörlosengeld soll nach dem Vorbild des bayerischen Blindengelds als Ausgleich für diese behinderungsbedingten Mehrkosten dienen. Auch die Verpflichtung der Koalitionspartner zur Schaffung einer Landesfachstelle für Barrierefreiheit in Bayern stellt einen bedeutenden Schritt in Richtung gesellschaftlicher Inklusion dar. Eine baldige Umsetzung wäre wünschenswert.

Bedarfe im Bereich Kinder und Jugendliche mit (drohenden) Behinderungen finden kaum Beachtung

Die von der CSU und den Freien Wählern betonte Priorität von Kindern im Koalitionsvertrag richtet sich leider kaum an Kinder und Jugendliche mit (drohenden) Behinderungen. Diesbezüglich wird lediglich vage die Inklusion in den Bereichen Kita, Schule und Ausbildung erwähnt. Essenzielle Angebote wie Interdisziplinäre Frühförderstellen und Heilpädagogische Tagesstätten finden keine Erwähnung. Als „Familienland“ müssen auch Familien mit Kindern und Jugendlichen mit (drohenden) Behinderungen ausreichend Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen können. Hier bleibt der Koalitionsvertrag eine klare und zukunftsfähige Antwort schuldig.

Bessere Ausbildungsbedingungen, um die Attraktivität des Berufs der Heilerziehungspflege zu steigern

Die Ausbildung in der Heilerziehungspflege ist der zentrale Baustein für die Gewinnung neuer, dringend benötigter Fachkräfte für die Eingliederungshilfe. Neben der bis zu fünf Jahre dauernden Ausbildungszeit wird in Bayern für die Ausbildung keine tariflich vereinbarte Ausbildungsvergütung gewährt. Die Höhe des Einkommens der Auszubildenden variiert deshalb sehr stark, unter anderem auch, weil es bis dato keine gesicherte Refinanzierung der Ausbildungsvergütung für die Einrichtungsträger gibt. Die von den Koalitionspartnern geäußerte Willensbekundung zu einer Verbesserung der Ausbildungsvergütung ist begrüßenswert, lässt jedoch die Frage offen, wie diese refinanziert wird.

Fazit: Viele Themen bleiben unerwähnt

Viele aktuelle und wichtige Themen für Menschen mit Behinderung wie die Umsetzung eines inklusiven Arbeitsmarktes, der Umgang mit wegfallenden Mitteln aus der Ausgleichsabgabe, die Konversion von Komplexeinrichtungen, die Verbesserung der Beratungsstrukturen etc. bleiben im Koalitionsvertrag leider unerwähnt. Die Diakonie Bayern hofft, dass die neue Regierung diese Bereiche dennoch aktiv angehen wird.

Sozialpsychiatrie

„Die Prävention bei psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, und die Suizidprävention werden wir weiter ausbauen. Die etablierten Krisendienste für Menschen in psychischen Notlagen führen wir fort“ (S. 20). Der Schwerpunkt im Koalitionsvertrag bleibt bei den Kindern und Jugendlichen, die psychiatrisch und psychotherapeutisch nach wie vor noch unterversorgt sind in Bayern. Das ist gut und führt das Bestehende fort, beinhaltet aber keine neuen Akzente.

Was die Suizidprävention betrifft, so hat der Bundestag im Juli 2023 eine Entschließung getroffen, hier ein Konzept vorzulegen. Es ist zu erwarten, dass sich Bayern dazu positionieren wird. Zum Hintergrund: Der Deutsche Bundestag hat mit großer Mehrheit den Entschließungsantrag (Drucksache 20/7630) zur Suizidprävention vom Juli 2023 angenommen. Er beinhaltet verschiedene Eckpunkte, insbesondere: “a) Die bereits bestehenden Angebote zur Intervention bei suizidalen Krisen sollen besser unterstützt werden. Die Bundesregierung soll dazu im Rahmen der Strategie gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen ein Konzept zum Ausbau von kostenlosen, zielgruppenspezifischen, professionellen sowie ehrenamtlichen Beratungs- und Hilfsangeboten vorlegen. b) Unter Einbeziehung bestehender Strukturen wie der Telefonseelsorge, sozialpsychiatrischer Dienste und projektfinanzierter Beratung soll ein deutschlandweiter Suizidpräventionsdienst etabliert werden, der Menschen mit Suizidgedanken wie auch ihren Angehörigen rund um die Uhr online und unter einer bundeseinheitlichen Telefonnummer einen sofortigen Kontakt mit geschulten Ansprechpartnerinnen und -partnern ermöglicht”. Das Bundesministerium für Gesundheit wurde zuvor beauftragt, zeitnah eine Suizidpräventionsstrategie zu erarbeiten – und ist damit aktiv geworden.Dazu passt das bayerische Vorzeigeprojekt der Krisendienste, welches gut weiterfinanziert werden soll. Das ist positiv. Davon profitieren die Bezirke mit den Leitstellen. Wir hoffen, dass die Bezirke ihrerseits dann die Ausrückdienste, die wir anbieten, gut finanzieren. Der ‚große Wurf‘ ist der Koalitionsvertrag für die Psychiatrie also nicht. Aber auch kein Desaster.

Das Kapitel „Für Humanität, Ordnung und Begrenzung bei der Migration“ im neuen Koalitionsvertrag (S. 60 – 63) enthält aus Sicht der Diakonie Bayern einige begrüßenswerte Vorhaben, allerdings auch Aspekte, die kritisch zu beurteilen sind.

Wir schließen uns der Analyse der Staatsregierung an, dass Visaverfahren häufig mit überlangen Wartezeiten bei den deutschen Auslandsvertretungen verbunden sind – dies betrifft neben Arbeits- und Fachkräftevisa auch humanitäre Visaverfahren (wie Familiennachzug). Hier gibt es einen dringenden Handlungsbedarf. Wir stimmen zu, dass weiterhin eine schnellere und leichtere Anerkennung von Bildungsabschlüssen notwendig ist (S. 62). Weiterhin begrüßen wir die Zusage der Staatsregierung, abgelehnte Asylbewerber:innen mit einem festen Arbeitsplatz oder einem Ausbildungsvertrag nicht abzuschieben und insbesondere Menschen, die auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden können, eine Arbeitsaufnahme zu ermöglichen. Richtig ist aus unserer Sicht auch, dabei nicht auf das Nachholen eines Visaverfahrens zu bestehen (S. 61) – ein Procedere, das für alle Beteiligten in der Praxis mit einem enormen Aufwand verbunden ist.


Im Zusammenhang mit dem „Nein“ zu sogenannter illegaler Einwanderung und der Betonung, dass irreguläre Migration verhindert werden muss (S. 60), ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es für Schutzsuchende aufgrund kaum vorhandener humanitärer Zugangswege nahezu unmöglich ist, ‚legal‘ in die EU einzureisen. Weiterhin bestehen Zweifel, dass in Grenzverfahren (S. 60), so wie sie derzeit – inklusive haftähnlicher Unterbringung – für die EU-Außengrenzen geplant sind, Mindeststandards eingehalten und ein rechtsstaatliches sowie faires Asylverfahren sichergestellt würden. Im Hinblick auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) gilt daher, dass die durchaus notwendige Reform nicht um jeden Preis durchgesetzt werden darf (S. 62). Insbesondere dann nicht, wenn der Flüchtlingsschutz und Menschenrechte in der Konsequenz de facto ausgehöhlt würden. Die Überfokussierung der Staatsregierung auf Rückführungen ist darüber hinaus irreführend und führt zu einem Zerrbild. Es gerät dabei oftmals aus dem Blick: Menschen fliehen aus Kriegs- und Krisengebieten vor Unrecht, Verfolgung und Gewalt. Ukraine, Syrien und Afghanistan als Hauptherkunftsländer von Menschen, die bei uns Schutz suchen, zeigen das deutlich auf. Und so erhält auch die Mehrheit der Asylbewerber:innen einen Schutzstatus und damit ein Bleiberecht.


Mehr als 80 Prozent der derzeit 260.000 Ausreisepflichtigen in Deutschland – rund die Hälfte davon sind tatsächlich abgelehnte Asylbewerber:innen – werden geduldet, können also aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden (z. B. aus medizinischen Gründen, wegen familiärer Bindungen, beruflicher Bildung, fehlenden Reisedokumenten). Die Zahl der abgelehnten Asylbewerber:innen ohne Duldung – auf die sich die politische Diskussion eigentlich bezieht – liegt damit lediglich knapp unter 20.000 (Stand: August 2023).Die Bewältigung der Migrationsbewegungen allein auf Rückführungen zu verengen, hilft somit den Kommunen und Städten kaum, die enormen gesellschaftlichen und infrastrukturellen Herausforderungen, vor denen sie stehen, zu bewältigen. Stattdessen darf betont werden, dass eine Ausreisepflicht nicht nur durch freiwillige Ausreise oder Abschiebung beendet werden kann, sondern ebenso durch ein Aufenthaltsrecht, das den Menschen eine wirkliche Perspektive ermöglicht.

Kritisch beurteilen wir außerdem das Bestreben der Koalition, Asylbewerberleistungen in Sachleistungen zu gewähren (S. 60 f.). Neben der Einschränkung der Persönlichkeitsrechte und des Rechts auf Selbstbestimmung ist das Sachleistungsprinzip aus ökonomischen und nicht zuletzt auch aus organisatorischen Gründen abzulehnen. Angesichts der vielerorts überlasteten Behörden sollten wir eher darüber nachdenken, wie diese personell gestärkt werden können, anstatt sie mit zusätzlichen Aufgaben zu betrauen. Im Koalitionsvertrag wird außerdem eine Reduktion sogenannter „Pull-Faktoren“ angestrebt (S. 63). In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Migrationsforschung diesbezüglich Sozialleistungen – wenn überhaupt – eine überschätzte Rolle beimisst. Entscheidend für die Wahl des Ziellands sind vielmehr die geographische Nähe, bereits vorhandene Netzwerke, familiäre Bindungen oder die Sprache.

Die Diakonie Bayern setzt sich für die Sicherung des Existenzminimums aller in Deutschland lebenden Menschen ein und schließt sich der Analyse des Bundesverfassungsgerichts an, dass „die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren [ist]“.

Das Positionspapier zum Download