Pressemeldungen 2020

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Corona stellt stationäre Jugendhilfe vor große Herausforderungen

Ausgangsbeschränkungen, Besuchs- und Sportverbote bringen Jugendliche und Pädagog*innen in der stationären Jugendhilfe an Belastungsgrenze

Belastungen, über die in der Kranken- und Altenpflege zurecht berichtet werden, treten auch in anderen sozialen Bereichen auf. So auch in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, in der die weiter andauernde Ausnahmesituation durch die Corona-Pandemie große Umbrüche und Herausforderungen mit sich bringt. Für pädagogische Fach- und Betreuungskräfte ebenso, wie für die betreuten Kinder und Jugendlichen. Leider laufen diese Bedarfe, Nöte und Sorgen im Moment fast komplett unter dem politischen Radar, heißt, dass Jugendhilfe als ebenfalls betroffenes Arbeitsfeld, das zudem zur „kritischen Infrastruktur“ zählt, so gut wie nicht wahrgenommen wird.

In den heilpädagogischen, therapeutischen oder intensivtherapeutischen Wohngruppen der stationären Jugendhilfe leben Kinder und Jugendliche, die große Probleme in ihrer Familie haben, sozial auffällig sind oder mit erheblichen und nicht nur vorübergehenden sozialen Problemen sowie traumatischen Erlebnissen zu kämpfen haben. Die Mädchen und Jungen haben nahezu alle bereits in jungen Jahren Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie gemacht. Ziel der pädagogisch-therapeutischen Unterstützung ist, die sozialen Kompetenzen der Jugendlichen zu entwickeln und zu fördern, um ihnen den Anschluss an eine altersgemäße Entwicklung zu ermöglichen.

In Zeiten von Corona gelten nun für die Mädchen und Jungen zusätzlich verschärfte Regelungen, da in einer Wohngruppe viele Menschen mit jeweils eigenen Kontakten zusammenleben. Um auch hier die Ansteckungskette zu unterbrechen besteht in den Wohngruppen ebenfalls ein Besuchsverbot. Sie dürfen sich, wie wir alle nicht mit Freunden treffen, nicht in die Stadt gehen oder ein Sport- bzw. Fitnessstudio besuchen. Zudem dürfen die Jugendlichen aber auch ihre Familien nicht sehen – sie weder an den Wochenenden, noch in den Ferien besuchen. Sie sind 24 Stunden mit den anderen Jugendlichen auf ihren Wohngruppen zusammen, die alle ebenfalls traumatisiert und sozial auffällig sind. Schon ihr gewöhnlicher Alltag ist geprägt von Weglaufen, Regel- und Grenzüberschreitungen sowie verbalen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen.

Jetzt in dieser Krise werden sie zusätzlich getriggert, da ihnen ihre Autonomie und Selbstbestimmung weggenommen werden. Zwei elementare Bedürfnisse für traumatisierte Menschen. Alte Wunde und Traumata brechen auf und es kommt zunehmend zu massiven Konflikten. „Ich habe in der vergangenen Woche vier Meldungen mit besonderen Vorkommnissen an die Heimaufsicht schicken müssen, weil die Jugendlichen es nicht mehr ausgehalten haben, von ihren Liebsten getrennt zu sein und sich jede/r auf seine/ihre Weise ein Ventil gesucht hat“, berichtet Susanne Hernandez-Mora, Bereichsleitung im Evangelischen Kinder- und Jugendhilfezentrum Augsburg.

Das führt unweigerlich auch zu einer enormen Zusatzbelastung für die pädagogischen Fach- und Betreuungskräfte. „Sie müssen die Anspannungen und Aggressionen in der Wohngruppendynamik aushalten, ausgleichen und für Deeskalation sorgen und können dabei auch keinen Abstand einhalten, wie er für die Corona-Schutzmaßnahmen notwendig wäre“, sagt Frank Schuldenzucker, Geschäftsführer vom Evangelischen Erziehungsverband Bayern. Auch nähmen sie regelmäßig neue Kinder in ihren Gruppen auf, ohne zu wissen, ob diese eine Corona-Viruserkrankung haben oder nicht. Das belaste auch die eigene Familiensituation zuhause.

Eine große Herausforderung ist auch die Schulschließung. Seit 20. März müssen die Mitarbeitenden auch „Lehrer*innen“ für die unterschiedlichsten Altersstufen und Schulformen sein und einen entsprechenden Lernrahmen gestalten. Für bis zu neun Kinder und Jugendliche. „Das ist fast nicht zu stemmen“, so Hernandez-Mora. „Lehrkräfte, die in den Schulen nicht unterrichten können, in den Einrichtungen einzusetzen wären aber eine Möglichkeit sofern Räume vorhanden sind, in denen der Abstand gewährleistet werden kann.“ „Da dies aber aktuell nicht gemacht wird, müssen die Einrichtungen das Personal für Betreuung und Beschulung am Vormittag selbst organisieren, was mancherorts nicht so einfach zu bewältigen ist und eine noch ungeklärte Finanzierung mit sich bringt“ so Schuldenzucker.

Die meisten Fachkräfte verzichten derzeit auf private Kontakte, um niemanden zusätzlich zu gefährden und geraten dabei zunehmend an ihre Belastungsgrenze. „Es wäre schön, wenn wir Anerkennung, Lob und Solidarität seitens der Gesellschaft bekämen – so, wie es die Pflegefachkräfte zum Glück in diesen Wochen zahlreich erfahren durften. Das wäre eine große moralische Unterstützung für uns,“ sagt Hernandez-Mora. Darüber hinaus müsse es Sonderregelungen für die Kinder und Jugendlichen bezüglich Familien-Kontakt und Freizeitaktivitäten geben und Ideen entwickelt werden, um die Pädagog*innen psychisch zu unterstützen, fordert der Evangelische Erziehungsverband Bayern e.V.