München/Nürnberg: Knapp 270.000 mal wandten sich Reisende sowie Menschen in Not im Jahr 2016 an die 13 bayerischen Bahnhofsmissionen als erste Anlaufstelle häufig aber auch letzter Anker, darunter allein über 100.000 mal in der Stadt München. Damit ist die Zahl der Kontakte im Mittel gegenüber dem Vorjahr um 8 % gestiegen. Vor allem Einrichtungen in kleineren und mittelgroßen Kommunen verzeichneten eine steigende Zahl von Ratsuchenden (+ 11%).
Die Situation in der Bahnhofsmission München ist dabei gesondert zu betrachten: seit Jahren wenden sich vor allem Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten (über 80 % aller Kontakte) sowie Frauen und Männer mit Migrationshintergrund (ca. 80 %) an die Einrichtung.
In allen anderen bayerischen Bahnhofsmissionen liegt der Anteil dieser Personengruppen im Durchschnitt deutlich niedriger, steigt aber stetig: 2016 wandten sich rund 30 % mehr Personen in sozialen Schwierigkeiten, rund 45 % mehr Menschen mit psychischen Handicaps oder Suchterkrankungen sowie fast doppelt so viele Frauen und Männer mit Migrationshintergrund an die Einrichtungen an den bayerischen Bahnhöfen.
Die Gründe sind vielfältig. „Eine Weitervermittlung nach dem Erstgespräch ist oft schwierig. Das „System“, das heißt andere soziale Einrichtungen reagieren oft zeitverzögert auf aktuelle Veränderungen, während die Bahnhofsmissionen aufgrund ihrer konzeptionellen Offenheit und Niedrigschwelligkeit schnell und flexibel versuchen Lösungen zu finden,“ erläutern Bettina Spahn und Barbara Thoma, die beiden Leitungen der Bahnhofsmission München, ihre Beobachtungen.
Ähnliches bestätigt Anton Stadler, Geschäftsführer von IN VIA Regensburg und Leiter der dortigen Bahnhofsmission. „Der Bedarf an Hilfen in und am Bahnhof wächst hier in Regensburg. Trotz einer sehr aktiven Streetwork, mit der wir kooperieren, kommen immer mehr Menschen mit ihren Anliegen auch zu uns.“ Vorrangiges Ziel der Bahnhofsmissionen ist die Vernetzung mit anderen Einrichtungen und die gezielte Weitervermittlung der Hilfesuchenden.
Als äußerst niedrigschwellige Einrichtung füllen Bahnhofsmissionen oft eine Lücke im sozialen Hilfesystemen vor Ort, so auch für die zunehmende Zahl an Gästen mit psychischen Handicaps, Belastungen sowie Suchterkrankungen. Bayernweit hatten rund 37 % mehr Hilfesuchende als im Vorjahr in den bayerischen Bahnhofsmissionen psychische Einschränkungen, so die Statistikergebnisse. Viele von ihnen haben keine Krankheitseinsicht oder können kaum (mehr) an dem psychiatrischen Hilfesystem andocken. Sie finden offensichtlich in den Bahnhofsmissionen einen Platz, der für sie passt. „Eine nicht leichte Situation für unsere Mitarbeitenden und vor allem auch unsere vielen ehrenamtlich Engagierten,“ beschreibt Lisa Hagins die Situation. Sie ist die Leitung der Kirchlichen Allgemeinen Sozialarbeit bei der Diakonie Augsburg und für die Bahnhofsmission dort zuständig. Um Krankheiten zu erkennen und vor allem auch den Umgang mit den Betroffenen zu üben, bieten die Bahnhofsmissionen ihren Mitarbeitenden immer wieder entsprechende Fortbildungen, darunter auch Inhouse-Seminare der Deutschen Depressionshilfe.
Herausfordernd ist auch die zunehmende Zahl an Gästen mit Migrationshintergrund, darunter auch Asylsuchende. Sprachbarrieren, aber auch kulturelle Unterschiede machen Kommunikation hier erst einmal aufwändiger. Einige bayerische Bahnhofsmissionen gehen daher bereits neue Wege, indem sie Menschen mit Fluchterfahrung und andere MigrantInnen in ihre Teams aufnehmen. „Ich wünsche mir, dass die interkulturelle Öffnung, die Zusammenarbeit und das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen, ein Wesenszug unserer Einrichtung wird. Eine Zukunftsaufgabe ist sie allemal,“ so der Leiter der Würzburger Bahnhofsmission, Michael Lindner-Jung.
Nicht selten sind Bahnhofsmissionen auch eine wichtige Anlaufstelle für Menschen ohne Wohnung oder in prekären Wohnverhältnissen, die sich an den Bahnhöfen aufhalten. Dies beobachtet Heidi Ott schon lange. Sie war bis vor kurzem bei der Stadtmission Nürnberg für die Hilfen für Menschen in Wohnungsnot verantwortlich und ist jetzt als Referentin beim Diakonischen Werk Bayern auch für die Bahnhofsmissionen in evangelischer Trägerschaft zuständig. Gerade in kleineren Städten ist dies zu beobachten, wie zum Beispiel in Aschaffenburg. „Bei uns haben rund 80 % aller Gäste einen Bedarf an Tagesstruktur und nutzen die Bahnhofsmission in diesem Sinne,“ berichtet Sandra Bauer-Böhm von IN VIA Aschaffenburg, Leitung der Bahnhofsmission Aschaffenburg.
Daneben bleibt die Betreuung von Reisenden mit Mobilitätseinschränkungen eine wichtige Aufgabe der Bahnhofsmissionen. Gerade Bahnhofsmissionen, die hierin einen Schwerpunkt haben, wie Ingolstadt, Hof, Kempten oder Schweinfurt, verzeichneten auch mehr Kontakte.
„Allein an den gestiegenen Zahlen 2016 sehen wir, dass der Hilfebedarf an Bahnhöfen eher wächst als abnimmt – auch wenn wir uns das anders wünschen. Allerdings ist die Kapazität der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden begrenzt,“ beschreibt Hedwig Gappa-Langer die Situation. Sie ist zuständig für die Bahnhofsmissionen in katholischer Trägerschaft bei dem IN VIA Bayern e.V..
Als Einrichtungen der evangelischen und katholischen Kirche werden die Angebote der Bahnhofsmissionen vor allem aus kirchlichen Mitteln, Spenden und mancherorts kommunalen freiwilligen Zuschüssen finanziert. „Wünschenswert wären mancherorts, mehr Gestaltungsmöglichkeiten als soziale Anlaufstelle für Menschen in Not sowie Reisende. Aber das geht nur mit einer entsprechenden personellen Ausstattung sowie vielen engagierten ehrenamtlichen Mitarbeitenden,“ so das Resümee von Heidi Ott von der Diakonie Bayern e.V. und Hedwig Gappa-Langer von IN VIA Bayern e.V..
Hintergrund:
Bahnhofsmissionen sind die ältesten ökumenischen Einrichtungen der katholischen und evangelischen Kirchen. Die Caritas mit ihrem Fachverband IN VIA und die Diakonie leisten in Bayern gemeinsam diese wichtige soziale Arbeit am Brennpunkt Bahnhof – in guter Kooperation mit der Deutschen Bahn AG und anderen Akteuren am Bahnhof. Die 13 bayerischen Bahnhofsmissionen arbeiten in der Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern eng zusammen.
Neben den hauptamtlichen Mitarbeitenden unterstützen mehr als 300 ehrenamtlich engagierte Frauen und Männer die Arbeit der bayerischen Bahnhofsmissionen.