Bahnhofmissionen schlagen Alarm. Immer mehr psychisch Kranke suchen Rat und Hilfe

München/Nürnberg, 8. Juli 2014 Die bayerischen Bahnhofsmissionen schlagen Alarm: Jeder dritte Gast, der hier Rat und Hilfe sucht, hat psychische Probleme. Damit setzt sich

ein besorgniserregender Trend unvermindert fort: rund 73 000 Kontakte mit psychisch belasteten oder seelisch kranken Menschen wurden bayernweit gezählt, das ist im Vergleich zum Vorjahr ein rapider Anstieg um 42 Prozent. Über eine Viertelmillion Kontakte mit Gästen hatten die 13 Bahnhofsmissionen insgesamt, das sind fünf Prozent mehr als 2012.

Ob oberbayerische Metropole oder unterfränkische Kleinstadt: Immer mehr Besucherkontakte zwischen München und Aschaffenburg drehen sich in irgendeiner Form um Menschen mit seelischen Erkrankungen. Das berichtet die Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern unter Berufung auf die nun vorliegende Jahresstatistik 2013.

Fast immer handelt es sich um Menschen, die eine Fülle von Problemen mit sich herumtragen. Ursache und Auswirkung sind dabei schwer auszumachen.

Arbeitslosigkeit, gescheiterte Beziehungen, Alkohol und Drogen, der Verlust der Wohnung oder eines Angehörigen aber auch Schulden führen zu Depressionen, Ängsten oder Psychosen. Auffällig ist, dass bei vielen Betroffenen Vereinsamung eine große Rolle spielt. Ohne Familie und soziales Umfeld sind immer mehr, egal ob alt oder jung, mit ihren Sorgen und Nöten ganz auf sich alleine gestellt.

 

„Viele von ihnen haben keine Krankheitseinsicht. Und immer häufiger handelt es sich bei den Hilfesuchenden in unseren Bahnhofsmissionen um Menschen, die in anderen Einrichtungen keinen Platz mehr finden,“ erläutert Hedwig Gappa-Langer, Referentin der katholischen Bahnhofsmissionen beim Landesverband IN VIA. "Diese Entwicklung stellt für unsere Bahnhofsmissionen insbesondere mit Blick auf die eng begrenzten finanziellen Mittel eine große Herausforderung dar, " ergänzt ihr Kollege Michael Frank vom Diakonischen Werk Bayern. Die Arbeit mit psychisch kranken Menschen braucht viel Erfahrung und Wissen, aber auch Zeit und Geduld. Die finanzielle und personelle Ausstattung der Bahnhofsmissionen ist dafür kaum ausreichend.

"Die Resistenz gegen Hilfe ist oft Teil der Erkrankung", berichtet Sandra Bauer- Böhm. Leitung der Bahnhofsmission Aschaffenburg. Die Mitarbeitenden müssen dann auch damit klar kommen, dass sie manchmal vergeblich versuchen, den Betroffenen Brücken ins "normale" Leben zu bauen und Wohnungslose beispielsweise in eine feste Bleibe zu vermitteln. Zu fest haben die psychischen Probleme das Leben der Männer und Frauen im Griff, zu groß ist das Misstrauen und das Unvermögen, feste Termine wahrzunehmen, sich mit neuen Situationen oder Verbindlichkeiten zu arrangieren. Diese Erfahrung haben auch Andrea Sontheim und Simone Slezak, die Leiterinnen der Münchner Bahnhofsmission, gemacht - gerade bei den Frauen, die hier immer wieder Schutz für eine Nacht suchen, sich aber schwer in das System der Wohnungslosenhilfe eingliedern lassen.

Obdachlosigkeit beziehungsweise ständig wechselnde Übernachtungsmöglichkeiten sind nach Ansicht der Münchner Leitung mit ein Grund, dass auch immer mehr Arbeitsmigrantinnen und -migranten unter psychischen Problemen leiden: "Diese Menschen, oft Osteuropäer, sind entwurzelt, sie haben keine Zukunftsperspektive und eine ganz schwierige Lebenssituation mit ungewissen Arbeitsmöglichkeiten, das macht sie krank."

Mit den "besonderen Schwierigkeiten" ihrer Klienten steigt auch die Belastung für die Mitarbeitenden. Die Bahnhofsmissionen reagieren, bieten spezielle Schulungen für die Haupt- und Ehrenamtlichen und vernetzen sich mit anderen Hilfeeinrichtungen. Außerdem versuchen manche, sofern es ihre Ausstattung erlaubt, tagesstrukturierende Angebote zu schaffen. Dazu gehören Kunstangebote genauso wie Gesprächsrunden. "Nicht selten nehmen die Bahnhofsmissionen auch Menschen in Anspruch, die wenig Aussicht auf anhaltende Verbesserung ihrer Situation haben", so Michael Lindner-Jung, Einrichtungsleiter in Würzburg. Für viele ist es entscheidend, dass "sie hier Soforthilfe finden, bevor die persönlichen Probleme zur Krise werden und eskalieren," sagt Lindner-Jung: "Mit unserer Unterstützung bleiben Menschen damit überlebensfähig, trotz ihrer begrenzten Möglichkeiten. Und sie erhalten sich auf ihre Weise die Möglichkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft.“ Bahnhofsmission leiste dabei eine anspruchsvolle Aufgabe, die seitens der Öffentlichkeit mehr Anerkennung und Förderung verdiene, so Lindner- Jung.

"Die Bahnhofsmissionen sind für diese Menschen meist die einzige noch erreichbare Anlaufstelle, weil sie selbst bestimmen können, wann und wie oft sie kommen möchten, und was sie überhaupt von sich preis geben möchten", sagt die Leiterin der Aschaffenburger Hilfeeinrichtung, Sandra Bauer-Böhm. Viele Klienten schätzen es, dass wechselnde Gesprächspartner - oft Ehrenamtliche im Schichtdienst - ein offenes Ohr für sie haben: "So können sie ihre Geschichte in neuen Facetten immer wieder erzählen. Wir sind für sie da“, betont das Schweinfurter Leitungsteam mit Ingeborg Fuchs und Ingeborg Götz, „das können andere Hilfeeinrichtung oft nicht so leisten." Ein Besucher in Aschaffenburg formuliert es so: "Wenn ich nicht täglich in die Bahnhofsmission kommen und reden könnte, würde ich meine Sprache verlieren."

Eine bessere finanzielle Ausstattung würden sich auch Hedwig Gappa-Langer und Michael Frank von der Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern wünschen. Öffnungszeiten am Abend oder rund um die Uhr können wegen fehlender finanzieller Mittel nur wenige Bahnhofsmissionen bieten. Dabei wissen "viele Menschen gerade in der Nacht nicht wohin mit sich und ihren Ängsten", so Gappa-Langer, "psychische Probleme halten sich nicht an Öffnungszeiten.“