Aussichtslosigkeit macht krank. Bahnhofsmissionen helfen immer mehr psychisch belasteten Menschen

Die Zahlen sind alarmierend, in München wie in Passau oder Würzburg: Immer mehr Menschen, die in den bayerischen Bahnhofsmis-sionen Rat und Hilfe suchen, leiden unter psychischen Problemen. Viele sind einsam, andere verzweifelt, manche sogar suizidgefährdet.

 

241 000 Besucherkontakte hatten die 13 größtenteils ökumenisch geführten Hilfeeinrichtungen im vergangenen Jahr: Ungefähr jeder fünfte Gast war psychisch belastet. Das ist bayernweit eine Steigerung um cirka zehn Prozent. Allerdings gibt es große regionale Unterschiede. Während in Passau oder München etwa ein Drittel der Besucherinnen und Besucher unter psychischen Problemen und ihren Folgen litt, gab es in Schweinfurt mit sieben oder Augsburg mit zehn Prozent deutlich weniger Betroffene.

 

Fast immer handelt es sich um Menschen, die eine Fülle von Problemen mit sich herumtragen. Ursache und Auswirkung sind dabei schwer auszumachen. Oft führen Arbeitslosigkeit, gescheiterte Beziehungen, Alkohol und Drogen, der Verlust der Wohnung oder eines Angehörigen aber auch Schulden zu Depressionen, Ängsten oder Psychosen. Manchmal kommt auch erst die Krankheit _ und dann der soziale Abstieg. Eins jedenfalls scheint sicher: Die psychischen Probleme sind so dominierend, dass das „normale“ Leben völlig aus den Fugen gerät - und gleichzeitig die Gesundheit leidet.

"Das ist eine erschreckende Entwicklung, die wir seit einigen Jahren beobachten und eine große Herausforderung für unsere Bahnhofsmissionen," sagt Hedwig Gappa-Langer, Referentin der katholischen Bahnhofsmissionen beim Landesverband IN VIA. Ihr Kollege Michael Frank vom Diakonischen Werk Bayern kann das nur bestätigen: "Für die meisten unserer Gäste, deren seelische und körperliche Gesundheit durch ihre schwierige Lebenssituation nachhaltig in Mitleidendschaft gezogen ist, sind wir die letzte Anlaufstelle im Hilfesystem, sozusagen der Notanker."

Einige Bahnhofsmissionen vermerkten besonders drastische Veränderungen. In Würzburg etwa stieg die Zahl der Kontakte mit psychisch belasteten Menschen binnen eines Jahres um 31 Prozent auf 7 392 (gesamt: 38 400). "So einen rasanten Anstieg hatten wir noch nie", sagt Michael Lindner-Jung, Leiter der dortigen Bahnhofsmission, "wir merken schon, dass bei vielen Betroffenen Vereinsamung eine ganz große Rolle spielt."  Das macht sich im vergangenen Jahr gerade bei älteren Menschen ab 65 bemerkbar, die nicht nur wegen finanzieller Sorgen kommen, sondern auch weil sie völlig auf sich alleine gestellt sind. "Beziehungslosigkeit macht krank", so Lindner-Jung, "wie Armut auch."

Bei den Mitarbeitenden der Bahnhofsmissionen finden die Gäste nicht nur ein offenes Ohr. Auch viel Geduld gehört dazu, wenn es darum geht, Vertrauen aufzubauen, sich zu öffnen oder überhaupt Hilfe anzunehmen. Edda H. (Name geändert) etwa lebt seit Jahren auf der Straße. Sie ist schwer psychisch krank, aber nicht in Behandlung. Die Münchner Bahnhofsmission, so scheint es , ist noch eine ihrer letzten Brücken ins "normale" Leben.  Hierher kommt sie immer wieder - auch zum Übernachten. Ihre gesundheitliche Verfassung ist schlecht. Trotzdem dauert es Monate, bis sie sich in eine feste Bleibe vermitteln lässt. Immer wieder bemühen sich die Mitarbeitenden um Edda H., geben sie aber trotz vieler Rückschläge nicht auf.  "Viele Male von vorne anfangen zu müssen, das ist auch für uns Helfende sehr anstrengend", so Andrea Sontheim und Simone Slezak, die beiden Leitungskräfte der Münchner Einrichtung, "aber oft ist es unseren Gäste eben nicht mehr möglich, feste Termine wahrzunehmen, sich mit neuen Situationen oder  Verbindlichkeiten zu arrangieren." So gibt es leider auch immer wieder Schicksale oder Situationen, bei denen auch die Bahnhofsmission nicht weiterhelfen kann.

Die Menschen anzunehmen wie sie sind, keine Bedingungen zu stellen - das gehört zu den Grundsätzen der ökumenischen Bahnhofsmissionen. "Bei uns kann jeder so sein, wie er ist", betont Angelika Leitl-Weber, eine der Leiterinnen  der Passauer Einrichtung, "wir stellen keine Forderungen, sondern wir hören unseren Gästen zu, wenn sie reden wollen und versuchen eine Lösung zu finden,  wenn sie es wünschen."  Mindestens jeder dritte Besucher hier hat psychische Probleme, weiß Leitl-Weber aus den Gesprächen, "da sind  junge Leute, die zuhause rausgeworfen wurden und keine Perspektive mehr sehen genauso dabei wie der gutgekleidete ältere Herr, der ganz wirre Geschichten erzählt." Oder Suchtkranke, bei denen der Alkohol- oder Drogenmißbrauch deutliche Spuren hinterlassen hat.

Mit den "besonderen Schwierigkeiten" ihrer Klienten steigt auch die Belastung für die Mitarbeitenden, "sie müssen immer mehr und immer schwierigere Aufgaben in der Beratung leisten", betont Referentin Hedwig Gappa-Langer. Öffnungszeiten am Abend oder rund um die Uhr können wegen fehlender finanzieller Mittel nur wenige Bahnhofsmissionen bieten.  Dabei wissen "viele Menschen gerade in der Nacht nicht wohin mit sich und ihren Ängsten", so Gappa-Langer. Denn psychische Probleme halten sich nicht an Öffnungszeiten.  (Text: Annette Bieber)

Einige Zahlen (gerundet) aus den bayer. Bahnhofsmissionen 2012

241 000 Kontakte mit Besucherinnen und Besuchern, davon

140 000 in besonderen sozialen Schwierigkeiten

Die Bahnhofsmissionen boten insgesamt

368 000 Hilfeleistungen:

Von der Umsteigehilfe am Zug über gezielte soziale Hilfen bis zu intensiven Gesprächen, davon

27 000 Beratungs-, Seelsorge- und Krisengespräche

50 000  materielle Leistungen (Notversorgung mit Lebensmitteln, aber auch Schlafsäcke, Decken oder Hygienemittel)

33 000 Reisehilfen

167 000 längere Aufenthalte in der Bahnhofsmission

 

Kontakt für Nachfragen:

Hedwig Gappa-Langer

Referentin für die katholischen Bahnhofsmissionen in Bayern

IN VIA Kath. Mädchensozialarbeit Landesverband Bayern e.V.

gappa-langer(at)bahnhofsmission.de

Tel.: 089-7148501 od. 0172 - 7311179