Nürnberg, 8. Juni 2016 Sie haben keine Bleibe, kein Geld, kein Essen: viele Osteuropäer, die in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben nach Bayern kommen, stranden in der Bahnhofsmission. So war die Arbeit in den kirchlichen Anlaufstellen im vergangenen Jahr mancherorts nicht nur geprägt von der Flüchtlingswelle. „Sehr zu schaffen machte manchen Bahnhofsmissionen die Not von Zuwandernden aus dem osteuropäischen Ausland“, so Hedwig Gappa-Langer und Michael Frank von der Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern, denn „hier kommen die Mitarbeitenden in vielen Fällen spürbar an ihre Grenzen.“
Insgesamt fast 250 000 Mal nahmen Hilfesuchende 2015 die unbürokratische Unterstützung der 13 Bahnhofsmissionen in Bayern in Anspruch, teilen die katholi schen und evangelischen Einrichtungen in einer Presseinformation mit. Die 320 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden erbrachten fast 470 000 Hilfeleistungen. Darunter waren neben der Ausgabe von Notproviant knapp 56 500 materielle Hilfen, darunter Ersatzkleidung. Das ist gegenüber dem Vorjahr noch einmal eine Steigerung um acht Prozent. Jeder dritte Gast ist laut Statistik von Armut betroffen.
Mittellosigkeit ist zwar nicht nur ein Problem der zugewanderten Gäste. Für Hedwig Gappa-Langer, zuständige Referentin beim Frauenfachverband IN VIA Bayern e.V., zeichnet sich hier eine bedenkliche Entwicklung ab: „Auffallend ist, dass immer mehr Männer und Frauen aus Südosteuropa kommen, die sich in einer existentiellen Notlage befinden.“ Sie sprechen kein Deutsch, haben keinen Job, keine Unterkunft und ihr Anspruch auf Hilfen ist unklar und wird in der Rechtsprechung unterschiedlich bewertet. Nicht wenige sind krank, psychisch belastet und leben inzwischen hier auf der Straße – manchmal sogar mit ihren Familien, bestätigen die Leitungen der Bahnhofsmissionen vor Ort. „Es hat sich eine neue Obdachlosigkeit entwickelt“, sagt Anita Dorsch von der Nürnberger Station, „die meisten tragen das, was sie haben, auf dem Leib.“ Das Frustrierende dabei: „Es gibt kaum Möglichkeiten zu helfen und wenig zu beraten.“ Einen vorübergehenden Schlafplatz vermitteln, auf eine Kleiderkammer verweisen oder bei der Rückreise ins Heimatland helfen – mehr geht meist nicht.
Das ist auch in Augsburg so, wo sich die Bahnhofsmission zu einer Art „Überlebensinsel“ für neu zugewanderte EU-Bürger entwickelt hat. „Unsere Anlaufstelle ist für sie so wichtig, weil sie von den anderen Hilfesuchenden toleriert werden, sich treffen und in Ruhe neue Kraft tanken können“, sagt Lisa Hagins vom Diakonischen Werk. Fast jede(r) zweite Hilfesuchende hier hat mittlerweile Migrationshintergrund. Sogar Familien mit kleinen Kindern sind dabei, „sie wohnen im Auto, sehen aber trotzdem keinen Anreiz in ihre Heimat zurückzukehren“, so Dagmar Kunkel-Epple, Leiterin der Augsburger Einrichtung. Das gilt besonders auch für Angehörige ethnischer Minderheiten aus diesen Ländern.
War ihr früheres Leben schon von Armut und Ausgrenzung gekennzeichnet, sind die Perspektiven auch in Deutschland alles andere als rosig – nicht zuletzt, weil „sich keiner verantwortlich fühlt und hinschaut“, bedauert Susanne Mai vom Diakonischen Werk Regensburg und evangelische Leitung der Bahnhofsmission: „Wir haben es mit mittellosen Menschen zu tun, die nichts zurück zieht und die einfach nicht weiter wissen.“ Viele kommen mit völlig unrealistischen Vorstellungen oder werden mit falschen Versprechungen hergelockt und in prekären Arbeitsverhältnissen ausgebeutet, ergänzt Anton Stadler, Geschäftsführer von IN VIA Regensburg und katholischer Leiter der Einrichtung.
Hilfe wird dringend benötigt, die Möglichkeiten sind jedoch stark begrenzt. „Die Armutsmigration vornehmlich aus Osteuropa bedarf politischer Lösungen. Solange es diese nicht gibt, arbeiten wir mit Blick auf die betroffenen Menschen an improvisierten Notlösungen mit hohem persönlichen Aufwand ohne wirkliche Perspektiven“, sagt Michael Lindner-Jung, Chef der Würzburger Einrichtung. Etwas Entlastung bieten in verschiedenen Städten Projekte, die aus dem „Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen“ (EHAP) gefördert werden. Grundsätzlich müsse aber der Gesetzgeber für rechtliche Klarheit sorgen, findet Lisa Hagins aus Augsburg: „Die unterschiedlichen Entscheidungen des Bundessozialgerichtes und der verschiedenen Landessozialgerichte sorgen für Unklarheiten und Unsicherheiten in der Beratung. Hier schuldet der Staat nicht nur den Betroffenen, sondern auch den Beratungsstellen mehr Klarheit. Denn Unklarheit führt zu Ausgrenzung.“
Zusammenfassend stellen Hedwig Gappa-Langer von IN VIA Bayern e.V. und ihr Kollege Michael Frank vom Diakonischen Werk Bayern fest, dass die wachsenden Armutsprobleme in Deutschland und Europa die Arbeit der Bahnhofsmissionen stark bestimmen.
Als niedrigschwellige Einrichtung am zentralen Ort Bahnhof sind die kirchlichen Dienste in der Regel erste und oft auch letzte Anlaufstelle für Hilfesuchende. Sie versuchen zu helfen, wo andere Einrichtungen die Menschen oft nicht mehr erreichen. Menschen in Not wenden sich in ihrer Perspektivlosigkeit vor allem auch an die Bahnhofsmissionen, dort wo für sie andere Angebote fehlen. „Auch wenn Bahnhofsmissionen es als ihre Aufgabe sehen in jeder Hinsicht und für alle humanitäre Hilfe zu leisten, ist dies nicht ganz spannungsfrei. Zum einen weil manche Einrichtungen aufgrund ihrer räumlichen und personellen Situation einen größeren Zulauf kaum bewältigen können. Zum anderen aber auch, weil weiterführende Hilfeangebote nicht vorhanden sind.“
Anderen, oft Älteren, Menschen mit Behinderung oder Familien mit Kindern, stehen die Mitarbeitenden mit Umsteigehilfen und Begleitangeboten im Zug zur Seite. Rund 38 000 einzelne Hilfen rund um das Bahnfahren haben die bayerischen Bahnhofsmissionen für Menschen unterwegs geleistet, ein weiteres „Kerngeschäft“ der Bahnhofsmissionen.