"Wir fordern eine bundesweite Verdopplung der Dienste, um eine gute Versorgung der jungen zugewanderten Menschen zu gewährleisten."
Burkhardt Wagner, Landesreferent Jugendmigrationsarbeit beim evangelischen Fachverband für sozial benachteiligte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, ejsa Bayern e.V.
Herr Wagner, Jugendmigrationsdienste kümmern sich um junge zugewanderte Menschen von 12 bis 27 Jahren mit vielfältigen Hilfsangeboten, um ihnen bestmögliche Teilhabe und gute Startbedingungen im neuen Land zu ermöglichen. Von wie vielen Jugendlichen sprechen wir derzeit, die in Bayern angekommen sind?
Nach Bayern kommen ganz unterschiedliche Gruppen: In Zuständigkeit der Jugendhilfe gibt es aktuell allein ca. 15.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus allen Regionen dieser Welt. Hinzu kommen ca. 160.000 geflüchtete Menschen, die in bayerischen Asylunterkünften leben. Von diesen sind ca. 70 Prozent unter 30 Jahren, also ca. 112.000. Die Zahl der begleiteten und unbegleiteten Jugendlichen im berufsschulpflichtigen Alter (16 bis 21 Jahre) betrug Ende September 2015 etwa 30 000. Weiterhin wanderten allein im Jahr 2014 (neuere Zahlen gibt es leider noch nicht) ca. 300.000 Menschen aus dem Aus- und Inland zu. Wir schätzen hier die Zahl der 12-27 Jährigen auf etwa ein Drittel, also 100.000 Menschen. Genaue Zahlen gibt es hier leider nicht. Alles in allem eine große Aufgabe, den überwiegend jungen zugewanderten Menschen hier in Bayern eine gute Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Die Chancen, hier dauerhaft anzukommen, sind natürlich auch stark von den Aufenthaltsrechten und den Zugangsmöglichkeiten in Sprache, Ausbildung und Beruf abhängig. Hier hat sich in den letzten Jahren ja recht viel getan.
Wieviel Jugendmigrationsdienste gibt es bayernweit?
Insgesamt – trägerübergreifend – gibt es in Bayern ca. 55 Standorte mit 80 Vollzeitstellenanteilen. Allerdings haben 30 Landkreise und kreisfreie Städte keinen Jugendmigrationsdienst oder sind stark unterbesetzt.
Angesichts dieser Zahlen und der wichtigen Rolle, die die Jugendmigrationsdienste in der Integration vor Ort inne haben, ist es dringend notwendig, die Jugendmigrationsdienste auszubauen. Wir fordern eine bundesweite Verdopplung der Dienste, um eine gute Versorgung der jungen zugewanderten Menschen zu gewährleisten. Denn die fachlichen und personellen Kapazitätsgrenzen in Bayern sind im Grunde nicht nur erreicht – sie sind bereits überschritten.
Welche Aufgaben haben Jugendmigrationsdienste?
Die Jugendmigrationsdienste des Bundesprogramms „Jugend stärken“ sind für alle jungen Menschen mit Migrationshintergrund – und hier insbesondere für die benachteiligten und individuell beeinträchtigen jungen Menschen gemäß § 13 SGB VIII da. Seit Oktober 2015 sind die JMD auch für die jungen geflüchteten Menschen, insbesondere für die mit guter Bleibeperspektive, zuständig. Hierzu zählen Geflüchtete aus den Ländern Syrien, Iran, Irak und Eritrea. Für diese Zielgruppe(n) sind die JMD erste Ansprechpartner in der sprachlichen, schulischen und beruflichen Integration und in der Begleitung der Übergänge zwischen Schule und Beruf. Die Aufgaben sind breit gefächert: Neben der individuellen sozialpädagogischen Beratung und Begleitung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund gehören auch vielfältige Gruppenangebote aus den Bereichen der Bildungs- und Elternarbeit, der Freizeitpädagogik oder auch der Förderung von Selbsthilfestrukturen dazu. Ein sehr wichtiger Teil der JMD ist die Netzwerk- und Sozialraumarbeit sowie die fachspezifische Vermittlung an andere Dienste und Einrichtungen.
Mit welchen Herausforderungen haben Sie gerade zu kämpfen?
Durch die wachsende Zahl und die schnelle Anerkennung von jungen Geflüchteten und die generell hohe Zuwanderung bei jedoch gleichbleibender Stellenausstattung der JMD steigt die Beratungsarbeit und damit ganz massiv der Druck auf die Fachkräfte vor Ort. Dadurch sinkt die pro Klient zur Verfügung stehende Zeit und der individuelle Integrationserfolg. Die Zahl der in den JMD begleiteten Jugendlichen (trägerübergreifend in ganz Bayern) hat sich seit dem Jahr 2012 von insgesamt 8.200 auf knapp 18.000 im letzten Jahr mehr als verdoppelt. Zudem gibt es einen steigenden Beratungs-, Abstimmungs- und Vernetzungsbedarf, d.h. z.B. in welchen Sprachkurs und/oder in welche Schule/Berufsschule kann der Jugendliche.
JMD-Mitarbeiter werden auch zunehmend als Experten in allen migrationsspezifischen Fragen von Ämtern und anderen Institutionen wahrgenommen. Das ist begrüßenswert, allerdings geht das natürlich auch von der Zeit ab, die für die individuelle Beratung der Jugendlichen gebraucht wird. Tagtäglich müssen hier die JMD abwägen, ob und wie sie ihre wenigen zur Verfügung stehenden Ressourcen so einsetzen, dass keiner zu kurz kommt. Dies ist angesichts der großen Integrationsbedarfe der jungen Menschen sehr schwierig. So fehlen nicht nur in den 30 kreisfreien Städten und Landkreisen, in denen es keinen oder nur sehr schlecht ausgestattete JMD gibt, Ressourcen, sondern auch in ganz Bayern. Lange Wartezeiten von bis zu vier Wochen – und dies bei jungen Menschen, die oft hoch motiviert sind – sind die Folge. Hinzu kommt, dass es in den ländlichen Räumen häufig nur schlechte Infrastrukturen und wenige Bildungs- und Freizeitangebote für junge Menschen gibt. Hier müssten dringend sinnvolle Hilfestrukturen geschaffen werden – was unter anderem auch bedeutet, die Jugendmigrationsdienste bedarfsgerecht auszubauen.
Integration ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf und genug zu Essen. Was braucht es Ihrer Meinung nach für eine gelingende Integration?
Integration gelingt vor allem dann, wenn die folgenden vier Dimensionen gleichermaßen beim Integrationsprozess berücksichtigt werden:
- Die strukturelle Dimension umfasst Bildung, Arbeitsmarkt und politische Partizipation.
- Die kulturelle Dimension umfasst Sprache, Alltagsbewältigung und Orientierungssystem (Werte, Normen et.).
- Die soziale Dimension umfasst Freundschafts- und Nachbarschaftskontakte, Vereinsmitgliedschaften etc.
- Die emotional-identifikative Dimension meint die emotionale Verbundenheit mit Deutschland (als Heimat).
Geflüchtete junge Menschen brauchen in ihrer sozialen, schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Integration Perspektiven, die ein Ankommen dauerhaft ermöglichen. Denn Integration des Einzelnen beginnt erst dann, wenn seine Identität feststeht. Fehlt also z.B. diese letzte der o.g. Dimensionen, baut der junge Mensch keine Verbundenheit mit dem aufnehmenden Land. Oft wird ihm/ ihr auch diese Chance auf Teilhabe von der aufnehmenden Gesellschaft verwehrt. Schon allein der Name, ob jemand Achmed oder Peter heißt, entscheidet darüber, ob derjenige zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird oder nicht. So ist erfolgreiche Integration tatsächlich in Gefahr. Parallele Strukturen, der Rückzug auf traditionelle Werte und auf die Herkunftskultur und Resignation durch viele alltägliche Erfahrungen mit Alltagsrassismus und Mechanismen sind die Folge. Dies müssen wir unbedingt verhindern. Keiner darf verloren gehen.
Was brauchen Sie für Ihre zukünftige Arbeit und welche konkreten Forderungen an die Politik ergeben Sich daraus?
Grundsätzlich brauchen wir in Bayern eine umfassende Auseinandersetzung und Debatte über gelingende Integrationskonzepte, die realistisch einbeziehen, dass auch und gerade Bayern seit Jahren eine Migrationsgesellschaft ist, aus denen eindeutig Teilhaberechte, aber auch Integrationspflichten der neu zugewanderten Menschen erwachsen. Der aktuelle Entwurf eines Bayerischen Integrationsgesetzes, der derzeit diskutiert wird, erfüllt diesen Anspruch jedoch nicht. Der Begriff der „Leitkultur“ oder die Orientierung an „Sitten und Gebräuchen“, an denen sich die Geflüchteten zu orientieren haben, ist nicht die Ebene der Auseinandersetzung über gelingende Integrationkonzepte.
Unter den Geflüchteten und Zugewanderten sind viele junge Menschen. Diese gilt es zu fördern. Aber auch die, die lange hierbleiben, aber eine geringe „Bleibeperspektive“ haben, benötigen genau so Unterstützung. Hier in „Verwertbare“ und „weniger Verwertbare“ zu unterscheiden, ist unchristlich und gegen jede Menschenwürde. Daher sind dringend Unterstützungs- und Hilfeangebote notwendig, die viel stärker den Fokus auf die Jugend egal welcher Stati legen. Zugangsweisen und Angebote müssen dabei jugendgerecht sein. Hier sind die Ansätze der migrationsbezogenen Jugend- und Jugendsozialarbeit richtungsweisend.
Ein landesgefördertes JMD-Programm, dass sich an den Grundsätzen der (bundesgeförderten) Jugendmigrationsdienste (analog bundes- und landesgeförderter Migrationsberatung für Erwachsene) orientiert sowie eine Spezialisierung der landesgeförderten Asylsozialberatung mit dem Fokus auf junge Geflüchtete zwischen 12 und 27 Jahren, wären wichtige Ansätze einer innovativen, zielgruppengerechten und zukunftsgerichteten bayerischen Integrationspolitik.
Weiterhin sind die landesgeförderten Maßnahmen und Programme der arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit und von Jugendsozialarbeit an Schulen wichtige Säulen der sozialen und beruflichen Integration neu zugewanderter junger Menschen. Diese gilt es bedarfsgerecht auszubauen.
Weiterführende Links:
http://www.ejsa-bayern.de/kategorie/migrationsbezogene-jugendsozialarbeit
http://www.jmd-portal.de
http://www.diakonie-bayern.de/die-diakonie-in-bayern-die-arbeitsfelder/diakonische-einrichtungen-in-bayern/beratungsstellen-und-einrichtungen.html